Informationen für Eltern
        
        
        Mathematik ist neben Deutsch das wichtigste Fach. Jedes Kind muss rechnen können, um in der Schule weiterzukommen und eine angemessene berufliche Laufbahn einschlagen zu können. Denn die Beherrschung der Grundrechenarten gehört zum unverzichtbaren Wissen eines jeden Menschen - auch und erst recht im Zeitalter des Taschenrechners und Computers. Wer nicht rechnen kann, für den ist auch ein Taschenrechner völlig nutzlos: Er weiß ja nicht einmal, welche Rechenaufgabe er in das kleine Gerät eingeben muss, damit es ausrechnet, was er wissen will.
Anders als im Deutschunterricht, wo manch einer seine Rechtschreibschwäche z.B. durch kreative, lebhafte Beteiligung am Unterricht kompensieren kann, lässt sich beim Rechnen nichts "wettmachen". Ein Kind kann rechnen oder kann eben nicht rechnen.
Mathematik ist ein streng systematisch aufgebautes Fach. Wer am Anfang nicht mitgekommen ist, für den ist es unmöglich, später bei "passender Gelegenheit" wieder einzusteigen. Wie soll z.B. ein Kind, das die Addition nur unzureichend verstanden hat, die Multiplikation begreifen, die die Vereinfachung aufeinander folgender Additionen gleicher Summanden ist? Und wie die Subtraktion, die die Umkehrung der Addition ist, und dann noch die Division, die die Umkehrung der Multiplikation ist? In der Mathematik kann man sich Wissenslücken nicht leisten.
Wieso lernt mein Kind nicht rechnen
Wenn Sie sich als Eltern diese verzweifelte Frage stellen, haben Sie und Ihr Kind vermutlich schon einen längeren Leidensweg hinter sich. Hat Ihr Sohn vielleicht schon im Vorschulalter regelmäßig "abgeschaltet", sobald es um Zahlen ging? Hat Ihre Tochter anfangs gerne gerechnet - und erst die Lust daran verloren, als sich zunehmend weniger Erfolg einstellte?
"Es muss mehr geübt werden!" - 
          war doch sicher auch Ihre Schlussfolgerung. Ab sofort wird daher
          nachmittags regelmäßig
          gerechnet. Wobei Sie sich natürlich sehr um Geduld bemühen, denn dass
          die Zeit zum Spielen verkürzt wird, ist ja schon hart genug. Sie
          rechnen vor, Ihr Kind rechnet nach. Manchmal klappt das auch, dann
          wieder
          nicht.
"Das Kind braucht Nachhilfe!" - 
          haben Sie sich vielleicht gesagt. Also übt Ihr Sohn zusätzlich
          mit einem Nachhilfelehrer. Aber was, wenn nach einer Woche oder
          spätestens nach der nächsten Mathe-Arbeit von all dem, was Ihr Kind
          eben noch "konnte", nichts mehr zu merken ist?
"Hat vielleicht die Schule versagt?" - 
          werden Sie sich gefragt haben. Die Lehrerin, der Lehrer wehren
          ab. Ihnen kann man keinen Vorwurf machen, sie haben getan, was sie
          konnten. Und das stimmt auch: In der 1. Klasse der Grundschule werden
          schließlich 20 - 30 Kinder zusammengewürfelt, die im Alter noch
          ziemlich gleich sein mögen, in ihrem Zahlenverständnis hingegen total
          verschieden. Da gibt es Kinder, die sich im Zahlenraum bis 20 bereits
          zurechtfinden, und andere, die noch nicht bis 3 zählen können.
          Niemand,
          und sei er noch so engagiert, ist in der Lage, ihnen allen
          gleichzeitig
          und gleichermaßen gerecht zu werden.
Später schlägt der Lehrer vielleicht Förderunterricht vor. Jetzt gibt es Förderunterricht und Nachhilfeunterricht und zusätzlich wird zu Hause geübt. Klar, dass das eine Quälerei ist, aber was sein muss, muss sein. Ungeduld schleicht sich ein und nicht selten macht sich Verzweiflung breit - auf beiden Seiten:
Aus dem Schulanfänger ist ein echtes Problemkind geworden. Es ist "unkonzentriert, motivationslos und leistungsgehemmt" - so heißt es jetzt, vielleicht auch noch "verhaltensauffällig und aggressiv"; oder aber ein so genanntes "unauffälliges" Kind, das verängstigt alles Lernen von vornherein abwehrt: "Das kann ich nicht!"
Was ist in den ersten Schuljahren wirklich passiert? Hat das Kind
          denn wirklich nichts gelernt?
          Doch, aber kein Rechnen. Vielleicht war Ihr Sohn in seinem
          Zahlenverständnis noch nicht so weit, als in der Schule mit dem
          Rechnen
          begonnen wurde; vielleicht hat Ihre Tochter eine grundlegende
          Rechenoperation von Anfang an völlig missverstanden und niemand hat es
          bemerkt. Solche Kinder gehen oft im Klassenverband unter. Und weil
          ihre
          Schwierigkeiten unbemerkt bleiben, wird ihr quantitatives Denken nicht
          gefördert, sondern überfordert. Die Konsequenz: Sie verstehen nichts,
          der Unterricht geht völlig an ihnen vorbei und sie machen in ihrem
          Verständnis von Mengen, Zahlen und Rechenoperationen nicht die
          geringsten Fortschritte.
Rechenschwache Kinder, die ja alles richtig machen wollen, kämpfen zunächst sehr darum, den Anschluss nicht zu verlieren, obwohl sie nicht mitkommen. So mancher Junge lernt möglichst viel von dem, was er nicht versteht, auswendig, damit er im Zweifelsfall die richtige Antwort parat hat und sich nicht blamiert. Weil er auf diese Weise häufig auch zu richtigen Ergebnissen kommt, merkt niemand, dass er in Wirklichkeit gar nicht weiß, was er da tut. Seine Rechenschwäche bleibt unbemerkt.
Er lernt z.B., dass 2 + 2 = 4 ist. 2 * 2 ist auch 4.
          
          Dann ist das "+" wohl so etwas Ähnliches wie das " * " - oder?
          Warum ist dann 3 + 3 = 6, aber 3 * 3 = 9?
          
          Antwort des Vaters, der fleißig mit seinem Sohn übt: "Weil man
          hier malnehmen muss." Diese Antwort hilft dem rechenschwachen Jungen
          überhaupt nicht weiter.
Hand aufs Herz: Könnten Sie dem Jungen mehr als das richtige Ergebnis sagen? Könnten Sie ihm dazu noch eine stichhaltige Begründung liefern, sodass er den Zusammenhang von Addition und Multiplikation versteht und so den Unterschied begreifen lernt? Wie lange müssen Sie überlegen?
Mit der Zeit wird der Abstand zwischen dem, was das Kind selber begriffen hat, und dem, was im Unterricht inzwischen dran ist, größer. Schon sind vierstellige Zahlen an der Reihe. Wie schreibt man Tausend? Mit einer 1 und drei Nullen. Warum? Die Mutter sagt: "Weil man das so macht". Dann soll das Kind die Zahl 1431 schreiben. Es will ja nichts verkehrt machen und schreibt: 1000431. Das enttäuschte, entnervte Gesicht der Mutter signalisiert: schon wieder daneben.
Fast jedes rechenschwache Kind gibt dann irgendwann auf. Es kapituliert vor der ihm unerklärlichen Tatsache, dass all seine Bemühungen letztlich fruchtlos bleiben. Wenn dann noch Vorwürfe dazukommen, ist von seinem natürlichen Selbstwertgefühl meist nicht mehr viel übrig. Die lieben Mitschüler, die manchmal recht gnadenlos sein können, tun oft ein Übriges dazu, dass einem rechenschwachen Kind das Fach, in dem es so viel persönliches Versagen erlebt hat, schließlich zutiefst zuwider ist.
Rechenschwache Kinder sind eine Minderheit, der die Institution Schule nicht gerecht werden kann. Sie erhalten dort nicht die spezielle Förderung, die sie brauchen, weil sich die Schule hinsichtlich Stoff und Lerntempo an der Mehrheit der Schüler orientiert.
Häufig genug werden rechenschwache Kinder wegen ihres Leistungsrückstandes im Fach Mathematik insgesamt für "dumm" erklärt. Und diese Abqualifizierung kann sich dann im Sinne einer "sich selbst erfüllenden Prophezeiung" zu einer generellen Lernbehinderung auswachsen: Die betroffenen Kinder werden zunehmend durch Minderwertigkeitsgefühle und Versagensängste bestimmt, sehen auch in anderen Fächern nur mehr Anforderungen, die sie nicht erfüllen können, und fallen allgemein in der Schule zurück, d.h. auch in den Fächern, in denen sie bisher durchschnittliche oder gar bessere Leistungen erbracht haben.
So kann eine nicht erkannte und daher auch nicht therapierte Rechenschwäche sehr weitreichende Konsequenzen haben.
Treten Sie Vorurteilen entgegen!
Rechenschwache Kinder, deren Selbstwertgefühl schon genug darunter zu leiden hat, dass sie in einem so wichtigen Fach versagen, werden oft zusätzlich mit dem Vorurteil konfrontiert, sie seien dumm, faul oder unkonzentriert, also im Grunde selbst Schuld daran, dass sie nicht rechnen können.
Eine verhängnisvolle Schuldzuweisung, die nur durch Unkenntnis oder Hilflosigkeit gegenüber dem Phänomen Dyskalkulie erklärlich wird. Verhängnisvoll in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird dem Kind damit ein äußerst ungerechtfertigter Vorwurf gemacht. Es kann ja nun wirklich nichts dafür, dass ihm nicht die spezielle Förderung seines quantitativen Denkens zuteil geworden ist, die es gebraucht hätte. Und zum andern wird ihm damit der Eindruck vermittelt, es sei bereits endgültig abgeschrieben.
Rechenschwache Kinder sind nicht dumm!
Die Ergebnisse, die ein rechenschwaches Kind errechnet, mögen einem flüchtigen Betrachter so erscheinen, als seien sie aus schierer Willkür und purem Zufall entstanden. In der Regel ist das nicht so; meist haben die Fehler Methode.
1. Frank z.B. errechnet Folgendes:
          
          22 + 5 = 9
          
          Er hat sich gemerkt, dass es bei der Addition zweistelliger
          Zahlen vorteilhaft ist, die Zahlen in ihre Stellen zu zerlegen, die
          Stellen einzeln zu addieren und dann die Zahl wieder zusammenzusetzen.
          Das macht Frank aber so:
          
          22 + 5 = 2 + 2 + 5 = 9
          
          Ihm fällt auch gar nicht auf, dass das Ergebnis seiner Addition
          kleiner ist als der erste Summand, zu dem er ja noch die Zahl 5
          hinzuzählen soll. Das Stellenwertsystem muss diesem Jungen ein Buch
          mit
          sieben Siegeln sein!
          
          2. Sandra und ihre Rechenstrategie sind ein weiteres Beispiel.
          Sie verrechnet sich hartnäckig um 1. Die Aufgabe 4 + 3 bewältigt sie
          z.B. folgendermaßen:
          
          Sie fängt mit der linken Hand an und zählt die Finger ab:
          Erster, zweiter, dritter, vierter Finger. Die "4" wäre geschafft.
          Anschließend kommt die "3" dran, nach derselben Methode, beginnend mit
          dem vierten Finger, der jetzt der erste ist. Der fünfte Finger ist
          jetzt der zweite und das gar nicht zufällige Ergebnis lautet "6".
          
          Sandra, die noch keinen Mengen- und Zahlenbegriff hat, gibt sich große
          Mühe, trotzdem richtig zu "rechnen": Mithilfe der Finger und der
          auswendig gelernten Zahlenreihe passt sie darauf auf, dass ja nichts
          verloren geht. Sie hat also gar nicht 3 + 4 gerechnet, sondern ihre
          Finger abgezählt bis zum rechten Daumen, von dem sie weiß, dass der
          "6"
          heißt.
          
          3. Ein drittes Beispiel ist Lothar mit seiner schriftlichen
          Subtraktion:
          
          72 - 15 = 63
          
          Er hat sich aus dem Unterricht gemerkt, dass immer die kleinere
          Zahl von der größeren abgezogen wird. Diese Regel wendet er jetzt bei
          der schriftlichen Subtraktion an. Er schreibt die Zahlen richtig
          untereinander:
          
              72
           -  15
          
          und beginnt richtig mit der Einerstelle. Dort stutzt er: 2 - 5
          passt nicht zu der Regel, nach der die kleinere Zahl von der größeren
          abgezogen werden muss. Damit die Aufgabe passt, stellt er die Ziffern
          um und rechnet 5 - 2.
          
          Für Lothar war diese Manipulation nötig, damit er die Aufgabe 72 - 15
          lösen konnte. Sein gar nicht zufälliges Ergebnis lautet: 63.
          
          Nicht durch Unkonzentriertheit, Gedankenlosigkeit oder
          Flüchtigkeit entstehen solche Fehler: Vielmehr hat das rechenschwache
          Kind sehr viel Konzentration und Gedankenarbeit aufgebracht, um die
          Aufgabe, die es lösen sollte, auch zu lösen. Es hat sich eine
          persönliche Rechenstrategie - wir nennen das einen subjektiven
          Algorithmus - zurechtgelegt, um mit der Aufgabe fertig zu werden.
... sie sind auch nicht faul!
 Einem Kind, dessen Mengen- und Zahlenbegriff nicht entwickelt
          ist, nützt die Devise "üben, üben und nochmals üben" überhaupt nichts.
          Solange ihm der Begriff der Zahl fehlt, kann es schlechterdings nicht
          begreifen, was der Sinn von Rechenoperationen ist. Solange bringt auch
          das Üben keinen Fortschritt in der geistigen Beherrschung von
          Quantitäten, sondern nur sinn- und zwecklose Quälerei für Kinder und
          auch Eltern. Denn es wird ja nur das wiederholt, woran das Kind bisher
          gescheitert ist.
          
          Bestenfalls wird dabei das trainiert, was das rechenschwache
          Kind in vielen Fällen schon überdurchschnittlich gut kann: Das
          Memorieren sinnlos erscheinender Zeichen und Laute und deren
          willkürlich erscheinender Kombinationen. Denn was für Erwachsene eine
          ganz normale, einfache Rechenaufgabe ist, z.B. die Addition
          
          7 + 6 = 13,
          
          ist für ein Kind, das Zahlen nicht "versteht", so verwirrend und
          undurchschaubar wie die "Rechnung"
          
          § + & = %*.
          
          Stellen Sie sich einmal die geistige Anstrengung vor, die es
          kostet, sich Dinge zu merken, von denen man nicht weiß, was sie
          überhaupt bedeuten!
          
          Manche Kinder lernen fleißig Ergebnisse auswendig. Katrin z.B.
          hat sich gemerkt, dass bei einer bestimmten Sachaufgabe, bei der sie
          zunächst "34" errechnet hatte, auf jeden Fall die Zahl "38"
          herauskommen muss. Noch eine Woche später ist sie sich da ganz sicher.
          Auf die
          Nachfrage, wie sie denn darauf gekommen sei, antwortet sie lapidar:
          "Es
          stand so an der Tafel." Den Lösungsweg kann Katrin nicht mehr angeben,
          gibt sich aber nun große Mühe zu überlegen, wie man die Aufgabe "so
          rechnen kann, dass 38 rauskommt". Eine ganze Woche lang hat sich
          Katrin
          eine unbegriffene, für sie willkürliche Zahl gemerkt. In dieser
          Hinsicht sind manche rechenschwachen Kinder geradezu erschreckend
          fleißig!
          
          Natürlich sind bei einem rechenschwachen Kind häufig auch
          Symptome zu beobachten, die den Verdacht auf Faulheit zu bestätigen
          scheinen: Es sitzt deprimiert herum, lässt mutlos den Kopf hängen,
          drückt sich um die Hausaufgaben, so gut es kann, sitzt dann ewig an
          den
          Aufgaben, "ohne sich zu konzentrieren" und scheint insgesamt träge und
          faul zu sein.
          
          In Wirklichkeit konzentriert es sich vielleicht doch, nur eben
          auf etwas anderes. Viele rechenschwache Kinder sind extrem
          misserfolgsorientiert: Sie haben solche Angst, schon wieder zu
          versagen, dass sie ihren Kopf für nichts anderes mehr frei haben.
          Diese
          "Unkonzentriertheit" kann Folge einer Dyskalkulie sein.
... sie sind nur verzweifelt und enttäuscht
Enttäuscht, weil all ihre Bemühungen umsonst waren, und
          verzweifelt, weil sie nicht wissen, was sie daran ändern können. Dabei
          befinden sie sich nicht nur subjektiv in einem Dilemma, sondern auch
          objektiv: Was nützt der gute Wille, richtige Ergebnisse zu liefern und
          falsche zu vermeiden, wenn gleichzeitig gar nicht klar ist, wie man
          "richtig" und "falsch" unterscheiden kann! Das ständig wiederkehrende
          Erlebnis des eigenen Unvermögens führt auf die Dauer zur Entmutigung.
          Die Kinder resignieren und wollen mit "all dem" von vornherein nichts
          mehr zu tun haben: "Das kann ich doch nicht!"
          
          Besorgte Eltern werden hier wiederum selbstkritisch und meinen,
          sie hätten ihre Kinder nur nicht genug gefördert. Wie den meisten
          Erwachsenen ist ihnen Rechnen eine Selbstverständlichkeit. Sie
          brauchen
          sich über den Zusammenhang von Mengen, Zahlen, Zahlenaufbau und
          Rechenoperationen keine Gedanken mehr zu machen, weil sie den Umgang
          mit Zahlen beherrschen. Aber genau das macht die speziellen
          Lernproblemen
          ihres Kindes schwer nachvollziehbar: die Eltern verstehen nicht, was
          mit ihrem Kind eigentlich los ist, warum es nicht rechnet wie sie.
          
          Verschärfend kommt hinzu, dass die häuslichen Übungen für alle
          Beteiligten "Überstunden" sind. Nicht nur der Vater hat bereits einen
          ganzen Arbeitstag hinter sich, ebenso das Kind, das nach der Schule
          und
          den anschließenden Hausaufgaben eigentlich dringend ein paar Stunden
          freie Zeit bräuchte. Da schleicht sich dann leicht Ungeduld ein und
          nicht selten endet das gut gemeinte Üben mit Wutausbrüchen und Tränen.
          
          Für die Selbsteinschätzung des rechenschwachen Kindes hat dies
          katastrophale Folgen. Nachdem es bereits in der Schule "gelernt" hat,
          dass es fürs Rechnen "einfach zu dumm" ist, bekommt es anschließend
          durch die häusliche, ihm ganz persönlich gewidmete Rechenstunde die
          endgültige Bestätigung seiner Minderwertigkeitsgefühle.
          
          Was als Hilfe für das rechenschwache Kind gemeint war, kann so eine
          Verschärfung der Problematik bewirken.
Ihr Kind braucht Ihr Verständnis
Machen Sie einmal folgendes Gedankenexperiment:
          
          Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Beruf, der Ihnen gar
          nicht liegt, und müssten fast täglich Arbeiten verrichten, mit denen
          Sie sich nicht auskennen und bei denen Sie bestenfalls zufällig mal
          etwas
          richtig machen. Man tuschelt bereits über Sie und Ihr Unvermögen, man
          beschuldigt Sie, keine Einsatzbereitschaft zu zeigen, man macht sich
          über Sie lustig, man reagiert genervt, sobald Sie auftauchen und
          womöglich etwas wissen wollen. Schließlich werden Sie offen der
          Unfähigkeit bezichtigt.
          
          Völlig klar: Sie fänden die Situation nicht zum Aushalten,
          würden so bald wie möglich kündigen und sich um eine andere Arbeit
          bemühen.
          
          In einer vergleichbaren Situation befindet sich ein
          rechenschwaches Kind in der Schule. Es kann den Anforderungen nicht
          genügen, es wird von anderen beschuldigt oder gehänselt, seine
          Situation ist nicht zum Aushalten, aber es kann nicht kündigen. Hier
          ist Ihr Kind auf Ihre Unterstützung angewiesen, darauf dass Sie es
          verstehen, wenn
          es von seinem Ärger berichtet, über Mitschüler oder Lehrer klagt oder
          empört ist über ungerechte Behandlung.
          
          Bedenken Sie: Kein rechenschwaches Kind ist schuld an seiner
          Situation, es leidet selbst am meisten darunter, dass es mathematische
          Dinge nicht ebenso problemlos versteht wie viele seiner Mitschüler.
          Wenn dann trotz aller Bemühungen die Note 5 unter einer Klassenarbeit
          steht, womöglich mit dem Zusatz „du musst dich mehr anstrengen!“, dann
          ist das wie eine Strafe. Aber eine Strafe für was? Das betroffene Kind
          selbst
          hat ja gar nichts angestellt und hat nicht Strafe verdient, sondern
          Hilfe; denn es hat ja aus eigener Kraft gar nicht die Möglichkeit,
          sich
          aus seinem Unverständnis herauszuarbeiten, sondern ist angewiesen
          darauf, dass andere ihm Hilfestellungen bieten, die es verstehen kann.
          Diese Hilfe wiederum findet in der Regel in der Schule nicht statt und
          je weiter der Schulstoff fortgeschritten ist, umso weniger bietet er
          dafür überhaupt eine Möglichkeit. Die schlechte Note stellt daher
          keinen pädagogisch sinnvollen Umgang mit den Lernschwierigkeiten ihres
          Kindes
          dar, sie muss ihm als eine große Ungerechtigkeit erscheinen, mit der
          schwer fertig zu werden ist.
          
          Hier ist Ihr Verhalten wichtig: Achten Sie darauf, dass Sie
          keinen Ärger und keine Enttäuschung zeigen, wenn Sie Ihre Unterschrift
          unter eine schlechte Klassenarbeit setzen. Denn das wäre so, als ob
          Sie
          Ihr Kind dafür, dass es in der Schule "abgestraft" wurde, zu Hause
          noch
          einmal bestrafen. Sie sollten bewusst gegensteuern und Ihrem Kind erst
          recht mit Verständnis begegnen, wenn es unglücklich mit einer
          schlechten Note nach Hause kommt. Ihr Kind braucht den seelischen
          Rückhalt bei
          Ihnen. Es braucht dann, wenn es in der Schule mit einer schlechten
          Note
          gewissermaßen verurteilt worden ist, die Sicherheit, dass wenigstens
          zu
          Hause jemand auf seiner Seite steht.
          
          Daher ist es auch wichtig, dass Ihr Kind gelobt wird und dass es in
          Schutz genommen wird, wenn andere sich über es lustig machen. Wenn
          sich Ihr Kind bemüht, wenn es Einsatzbereitschaft zeigt, dann sollte
          das gewürdigt werden – unabhängig davon, ob es von Erfolg gekrönt ist
          oder
          eine gute Note zeitigt.
          
          Achten Sie darauf, dass das Fach Mathematik nicht zum
          beherrschenden Gesprächsgegenstand wird, bestehen Sie darauf, dass es
          noch andere wichtige Dinge im Leben gibt. Sorgen Sie dafür, dass
          möglichst viel von den Dingen die Rede ist, bei denen sich Ihr Kind
          auskennt und für die es sich interessiert. Ermutigen und unterstützen
          Sie Ihr Kind in seinen nicht-mathematischen Interessen und
          Fähigkeiten,
          so gut es geht. Sie fördern damit seine Entwicklung und könnten so
          einiges dazu beitragen, sein beschädigtes Selbstwertgefühl zu
          stabilisieren.
          
          Und verschaffen Sie sich möglichst früh Gewissheit darüber, wie
          es um die Schwierigkeiten ihres Kindes wirklich bestellt ist.
Worin sich Rechenschwäche zeigen kann
Ist Ihr Junge im Rechenunterricht
          wesentlich schlechter als in Deutsch? Ist Ihre Tochter darin zwar
          ähnlich gut, hat aber unverhältnismäßig mehr damit zu kämpfen, dass
          sie
          mitkommt?
          
          Dann beobachten Sie Ihr Kind. Stellen Sie fest, welche Fehler es macht
          und wo es nicht mehr weiter weiß. Achten Sie vor allem auf
          mathematische Lernschwierigkeiten der Art, wie sie im Folgenden
          aufgelistet sind. Sie können ein Hinweis darauf sein, dass eine
          Dyskalkulie vorliegt:
- Kann Ihr Kind räumliche Beziehungen erfassen? Verwechselt es rechts / links, oben / unten, hinten / vorn?
 - Kann es mit Zeitangaben umgehen? Verwechselt es Stunden, Minuten, Sekunden? Hat es nur ungenaue Vorstellungen von Wochen, Monaten, Jahren?
 - Kann Ihr Kind mit Geldbeträgen umgehen? Kann es beispielsweise Wechselgeld nachprüfen?
 - Überschaut Ihr Kind kleinere Mengen, ohne abzählen zu müssen?
 - Verwechselt es Begriffe wie mehr / weniger, das Doppelte / die Hälfte, ein Teil / das Mehrfache, aber auch Begriffe wie länger / kürzer, schwerer / leichter, schneller / langsamer, früher / später?
 - Verwechselt es Ziffern (4/5 oder 6/9)? Schreibt es Ziffern von unten her oder seitenverkehrt (3 ähnelt einem gerundeten E, 6/9)?
 - Schreibt es die Zahlen "nach Gehör" falsch: zum Beispiel bei der 65 erst die 5 und dann die 6, also 56?
 - Ist Ihr Kind in der Lage, die Zahlenreihe von 1 bis 20 auch rückwärts aufzusagen?
 - Beherrscht Ihr Kind Stellenwerte und Zahlenaufbau? Verwechselt es z.B. 12/21, 13/31?
 - Hat Ihr Kind Schwierigkeiten bei Zehner-, Hunderter-, Tausenderübergängen?
 - Bewerkstelligt es Addition und Subtraktion nur durch Abzählen?
 - Werden die Rechenoperationen verwechselt? Rechnet es z.B. 10 * 10 = 20, 3 + 3 = 9?
 - Ist Ihr Kind in der Lage, eine gegebene Sachaufgabe in den richtigen mathematischen Lösungsweg zu transformieren oder sucht es sich auf "gut Glück" irgendeine Rechenart aus? Addiert es beispielsweise, wo subtrahiert werden müsste?
 
Die Frage, ob ein Kind grundlegende
          Defizite auf dem Gebiet des quantitativen Denkens aufweist, ob also
          eine Dyskalkulie vorliegt, kann nur durch eine ausführliche fachliche
          Untersuchung geklärt werden. Denn zum einen treten nicht alle
          Schwierigkeiten immer voll in Erscheinung und zum anderen kommen viele
          dieser Fehlleistungen bei jedem Kind, das Rechnen erst noch lernt,
          mehr
          oder weniger häufig vor. Für den Fall, dass bei ihrem Kind zwei oder
          mehr der oben genannten Schwierigkeiten auftreten, sollten Sie sich
          durch einen Test Gewissheit verschaffen. Für die weitere Förderung
          Ihres Kindes ist es sehr entscheidend, ob es nur einen bestimmten
          Schritt
          nicht verstanden hat oder ob seine Schwierigkeiten grundlegender Art
          sind.
          
          Im letzteren Fall kann dem Kind ein überflüssiger und sehr
          zermürbender Leidensweg erspart werden, wenn die Dyskalkulie
          frühzeitig
          erkannt und therapiert wird. Bei der Früherkennung kommt Ihnen dabei
          die wichtigste Rolle zu, vor allem in den unteren Klassen. Der Lehrer
          kann
          unmöglich erkennen, ob hinter den richtig gerechneten Hausaufgaben in
          Wirklichkeit die große Schwester steckt, und die kleine Schwester wird
          aus Scham davon nichts erzählen. Aber Sie wissen es: Kommt Ihre
          Tochter
          von sich aus auch auf richtige Ergebnisse? Schreibt Ihr Sohn nur das
          mit Zuversicht nieder, was jemand anders ausgerechnet hat? "Diktieren"
          Sie
          Ihrem Kind die richtigen Lösungen? Es hilft Ihrem Sprössling nicht
          weiter, wenn er mit Ihrer Hilfe zu Hause die Lösungen büffelt und
          diese
          dann in der Schule korrekt auswendig hersagen kann. Er kann so
          vielleicht seine Dyskalkulie vor Lehrern und Mitschülern eine Zeit
          lang
          verbergen - behoben wird sie dadurch nicht.
          
          Für den Erfolg der Therapie hängt sehr viel davon ab, dass eine
          Rechenschwäche möglichst frühzeitig erkannt wird. Zwei Dinge sind
          dafür
          ausschlaggebend: Zum einen können Versagensängste und
          Misserfolgsorientierung in so jungen Jahren die gesamte seelische
          Entwicklung eines Kindes schwer beeinträchtigen; zum andern ist in den
          ersten Schuljahren der Abstand zum aktuellen Schulstoff noch nicht so
          groß und therapeutische Erfolge können sich schneller in Schulerfolgen
          niederschlagen. Und Erfolg ist immer noch der wirksamste Motor, um
          Lernmotivation und Selbstvertrauen wiederherzustellen.
          
          Aber auch bei älteren Kindern und Jugendlichen, die sich schon
          seit einigen Jahren mit einer verschleppten Dyskalkulie und ihren
          Folgen herumschlagen, ist noch längst nicht "alles zu spät". Hier
          steht
          zunächst die diagnostische Erfassung der mathematischen Kompetenz im
          Vordergrund. Das vorhandene Wissen wie auch die Lücken und die
          falschen
          Sicherheiten, vor allem im mathematischen Grundlagenbereich, müssen
          genau bekannt sein, damit man gezielt mit der Erarbeitung der
          notwendigen Bereiche beginnen kann.
          
          Die betroffenen Jugendlichen oder Heranwachsenden leiden in der
          Regel schon lange unter Minderwertigkeitsgefühlen und
          Versagensängsten,
          die sie so gut wie möglich zu verbergen suchen. Es ist für sie
          beruhigend und eine entscheidend positive Perspektive, wenn sie die
          Chance bekommen, ihre Defizite in diesem Bereich abzubauen oder
          zumindest zu verringern, bevor sie ins Berufsleben gehen.
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